Ankunft in Lissabon – Über eine spröde Geliebte Info-Literatur

Ankunft in Lissabon – Über eine spröde Geliebte

Autor und Sprecher: Egon Koch
 
Das Bairro Alto, auf der Kuppe eines der sieben Lissabonner Hügel angelegt, erschien ihm am Abend als erhöhtes Spiegelbild der ,Unterstadt‘, der Baixa. Durchschnitten die ,Oberstadt‘ ebenfalls regelmäßige Fluchten, so unterschied sie sich aber vom Geschäftsviertel durch die Tatsache, dass man hier hinter zerfallenen Fassaden Restaurants, Fado-Lokale, Bars und Diskotheken vorfand, vornehmlich Samstagnacht. In bevölkerten, feuchtdunklen Gassen ging er von Nachtlokal zu Nachtlokal, um jedes Mal wieder mit gesenktem Kopf und leicht traurigem Gesicht herauszukommen, als hätte jener Mythos von der wehmütigen, portugiesischen Sehnsucht auf ihn übergegriffen. Bei den ersten Schritten, wiederum auf eine Bar zu, dachte er: Das war es nicht. Er suchte etwas, doch was? Er fand kein Wort, keinen Namen dafür. Auch an der nächsten Theke entrückten die Gesichter, blieben die Münder — dabei sah er, wie sie sich bewegten — für ihn stumm. Er bemerkte, dass die Leute weder englisch, deutsch, noch französisch sprachen, nur portugiesisch. Und er stand da, konnte kein Wort verstehen und immer nur einen Whisky bestellen. Allmählich gewann er den Eindruck, er sei hier falsch. Es gibt einfach Orte, dachte er, an deren Mauern schrammt man vorbei. Diese Nacht öffnete sich nichts in der ,Oberstadt‘.

Im milden Licht des Morgens — über Nacht hatte der Wind gedreht und die Wolkendecke aufgerissen — lief er an den Rand des Bairro Alto. Kurz vor dem Erreichen der Hügelkuppe stellte er sich auf die Aussichtsplattform östlich der Rua de Sao Pedro d`Alcantara. Sein Blick glitt den Hügelhang hinab und erfasste, wie das enge, hohe Viertel in großzügige Plätze überging, um einerseits steil in die Senke der ,Unterstadt‘ abzufallen, andererseits jedoch stufenweise zum Rio Tejo hinunterzuführen, in eine betriebsame Hafengegend. Gegenüber, hinter der Baixa, senkte sich die Alfama vom Castello Sao Jorge über die Kathedrale Sé ebenfalls zum Fluss hinab. Und diese beiden gezackten Linien der Hügelsilhouetten, diesseits und jenseits der ,Unterstadt‘, führten seine Augen zwangsläufig zu ihrem Schnittpunkt, zum quadratischen Praca do Comercio. Zur Stadt hin wurde er von einem symmetrischen Gebäude gebildet, aber zum seegroßen Wasser, zum Rio Tejo lag er offen. Nie hat er ein schöneres Stadttor gesehen. Gleich einer Landungsbrücke lud der Platz alle Ankommenden freundlich zum Betreten Lissabons. Und dahinter, am bei Ebbe seichten Ufer, erhoben sich zwei graue Steinpfähle, wartend auf die Ankunft einer prachtvoll geschmückten Gondel.

Des leichten Schrittes wegen ließ er sich durch die jetzt farbenfrohe ,Oberstadt‘ talwärts treiben, folgte auf der Calcada do Combo den Gleisen der legendären Straßenbahn Eléctrico 28 in Richtung Chiado, um am Anbeginn einer steil abfallenden Häuserschlucht die gelbe Kabine der Seilbahn Ascensor da Bica als zusammengekauertes Tier wahrzunehmen. Auf ihrer niedrigen, hügelwärts gerichteten Frontseite leuchtete eine Glühbirne im matten Gelb. In das längliche Holzgehäuse, das auf Eisenrädern und Schienen rollte, führten beidseitig vier türlose Öffnungen. Im vorderen, auf den Abhang zeigenden Bereich stehend, erblickte er den Rio Tejo zwischen Hausdächern diesseits und Lagerhallen jenseits eingezwängt, bis ein hämmerndes Signal dem Bahnführer ankündigte, seine Talfahrt zu beginnen. Gleichmäßig, von manchem Rumpeln erschüttert, zogen offene Haus- und Geschäftseingänge, ja zog die Innenwelt Lissabons vorüber, blieben abwärtsschreitende Leute zurück, worauf die Kabine einen Straßenbuckel überwand, über den Rand der Erde hinüberschwebte, steil in ein anderes Stadtgebiet eintauchte, um durch den Torbogen eines gelben Hauses in sein blaugekacheltes Innere vorzustoßen und mit einem leisen Zischen anzuhalten. Beim Ausstieg ließ er den anderen Fahrgästen Vortritt. Wer keine mit Passbild versehene Karte vorzeigen konnte, wie er, musste am Gittertor beim Pförtner seinen Fahrschein nachlösen: 30 Escudos. Und konnte durch die aufgestoßene, grüne Flügeltür auf was treffen? Auf das Gesuchte, auf das zauberhaft helle, jenseits der bisherigen Erfahrung liegende Hafenviertel. Im Anblick der Rua de Sao Paulo überkam ihn die heitere Gelassenheit eines Bogenschützen, der ins Schwarze getroffen hat.

Sendetermin
Sonnabend, 17. April 1993, zwischen 10.05 und 11.00 Uhr, NDR 4