Märtyrer des Pop? John Lennon und sein Mörder Zeitungskritik

Märtyrer des Pop?

John Lennon und sein Mörder

von Harald Keller
Mordfall: John Lennon; Arte, 20.40 Uhr.

So gehen Gewissheiten flöten : Nicht Computerspiele, Metzelfilme oder ausufernder TV Konsum verleiteten Mark Chapman zum Mord an John Lennon, sondern hohe Literatur: J. D.Salingers Der Fänger im Roggen. Die Tragödie bestätigt, was besonnene Menschen seit Jahren predigen: dass Medien, der Name sagt es, immer nur Mittler sind, die Ursachen einer solchen Tat aber in einer versehrten Seele verborgen liegen. Der spätere Attentäter Chapman erlebte eine lieblose Jugend und entwickelte – eine Parallele zu seinem späteren Opfer – eine starke Mutterbindung. An der Schule wurde er ausgegrenzt. Halt fand er bei reaktionären Christen, unter deren Einfluss er erstmals Zorn auf den populären Musiker Lennon entwickelte, als der die gelungene Provokation in die Welt setzte, die Beatles seien größer als Jesus. Willentlich missverstanden, lieferte das Zitat den Anlass zu einer groß angelegten Anti-Beatles-Kampagne der Fundamentalisten. All das kam Chapman wohl wieder in den Sinn, als er Jahre später, nach einem verpfuschten Leben, einem gescheiterten Selbstmordversuch, einem Aufenthalt in der Psychiatrie erneut auf Lennon aufmerksam wurde, dervon Frieden und Besitzlosigkeit gesungen hatte, aber in New York ein Leben als gut betuchter Müßiggänger führte. Chapman sah im Mord an Lennon die Chance zur Erfüllung seines Geltungsdrangs – und flog nach New York, wo er Lennon am B. Dezember 1980 erschoss. Egon Koch und Friedrich Scherer zeichnen die Lebenswege von Täter und Opfer nach und entdecken frappierende Gemeinsamkeiten. Das Motiv für Chapmans Tat, seine Persönlichkeitsstruktur werden deutlich, nicht nur aus seiner Biografie heraus, sondern auch durch die Analyse eines Kriminalpsychologen, die über den Einzelfall hinaus weist. Nur kurz und entsprechend unzureichend streifen die Autoren die Frage, warum der Tod Lennons alle Welt dermaßen erschütterte, dass sein Biograf Jack Jones diesen Verlust noch heute als ?offene Wunde“ bezeichnet. Denn zu Lebzeiten Lennons, nach dessen Umzug nach New York, gab es diese pseudoreligiöse Anbetung noch nicht in einem solchen Ausmaß. Damals veröffentlichte Lennon eher holprig produzierte Platten von nicht übermäßiger Originalität und sang mit quälend hoch geschraubter Stimme: eine Musikerkarriere mit den branchenüblichen Schaffenskrisen. Gleichfalls eine Frage für den Psychologen könnte also sein, warum nach Lennons Ableben eine derart irrationale Vergötterung einsetzte. Sie könnte obendrein noch ein Problem für die Kriminalisten werden, denn Mark Chapman wird seinerseits von leidenschaftlichen LennonFans mit dem Tod bedroht. Ob ihr Heiland das so gewollt hätte?

Frankfurter Rundschau, 30. November 2005