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Radio-Tagebuch

Mit dem Blick auf seine Kinder

Der 11. September 2001 und danach: „New York – mitten ins Herz“

Was lässt sich sagen, ein halbes Jahr nach dem 11. September 2001, über den Tag, der seither immer wieder als historische Zäsur bezeichnet wurde? Die unmittelbare Angst vor weiteren Anschlägen ist abgeklungen, Amerika und seine europäischen Solidarpartner können wieder streiten, wenigstens, wenn es um Handelszölle geht. Unterdessen hat der Afghanistan-Einsatz die ersten Opfer unter deutschen Soldaten gefordert, und seit Wochen wird über amerikanische Pläne für einen Militärschlag gegen den Irak spekuliert.

Egon Kochs Feature „New York – mitten ins Herz“ (Regie: Christoph Pragua) blickt noch einmal zurück auf den Tag X und die ihm folgende Woche. Die Sendung – eine Gemeinschaftsproduktion des WDR, der sie gestern ausstrählte, mit NDR und Südwestrundfunk – rekonstruiert den Anschlag auf das World Trade. Center und versammelt zahlreiche Stimmen aus New York, die das Ereignis zu fassen und zu deuten suchen. Eine solche Stimme, wenn auch eine fiktive, war vor kurzem erst in der Radiofassung von Israel Horovitz‘ Einpersonen-Drama „Three Weeks after Paradise“ zu hören (F.A.Z. vom 31. Dezember). Der Vergleich drängt sich auf, denn Christian Brückner, der Horowitz‘ Text für Hörfunk und Hörbuch las, wurde im Feature neben Burkhard Klaußner als Hauptsprecher besetzt.

Wo Horovitz, der sein Stück binnen drei Wochen nach den Anschlägen schrieb, sich allerdings Katastrophenkitsch und groben Vereinfachungen hingab und mit triefendem Lamento seine Gänsehaut zu Markte trug, ist Koch um deutlich mehr Distanz und ein breiteres Spektrum von Meinungen bemüht. Brückner darf hier ein paar klügere Sätze sagen.

Den Originaltönen der Augenzeugen stellt das Feature Kommentare von amerikanischen Schriftstellern und internationalen Publizisten, Kultur- und Medienwissenschaftlern an die Seite. Wo Horovitz sich auf den kulturpessimistischen Seufzer beschränkt, der einem Familienvater mit dem Blick auf seine Kinder entschlüpft („Durch das Fernsehen verstehen sie. So sehen sie die Welt“), lässt Koch einige Thesen darüber anklingen, wie der Anschlag wahrgenommen wurde, wie er auf die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Medien abgestimmt worden war. Über das, was man im Nachhall des Ereignisses seit Monaten lesen konnte, geht die Sendung damit nicht hinaus. Gegenüber einem Betroffenheitstheater ä la Horovitz fungiert der Aufmarsch von DeLillo, Amis, Baudrillard, Tibi, Sloterdijk und anderen insofern eher als Geste: als Aufforderung, nicht aus der Fassungslosigkeit ein wohlig erschütterndes Gemeinschaftsgefühl zu schmieden, sondern die Felder der internationalen Beziehungen, der Kultur, der Religion im Blick zu behalten, auf denen nach Antworten zu suchen ist.

Mit den Stimmen „von der Straße“ gelingt es Egon Koch immerhin, zu zeigen, dass jenseits der offiziellen Losung vom „Krieg gegen den Terror“ ein anderes Amerika existiert. Heillos naiv, wie eine Gruppe von Hippies, die an einer improvisierten Gedenkstätte für die Opfer in „Love and Peace“-Parolen einstimmen, oder nachdenklich und informiert wenden sie sich gegen die schnelle Flucht nach vorn in den tief verletzten Patriotismus. Wir waren nicht unschuldig, sagen viele, hoffentlich wache Amerika auf, zu lange hätten ein Großteil der Amerikaner und die Regierung ignoriert, was sich außerhalb ihres Landes abspiele.

Auch das hört man freilich nicht zum ersten Mal. Als Stimmungsbild aus New York ist Egon Kochs Feature aufschlussreich, die Zeit, die seit den Anschlägen auf New York und Washington verstrichen ist, hat eine kühlere Bestandsaufnahme befördert. Das unbefriedigende Gefühl, das die Sendung hinterlässt, rührt vielleicht daher, dass es für einen derartigen Rückblick noch zu früh ist. Hergang und Wirkung des Ereignisses sind noch zu frisch im Gedächtnis, viel drängender erscheint im Augenblick die Frage, wie die seither international entbrannte Krise sich weiterentwickelt.

Frank Kaspar

Heute um 23 Uhr bei SWR 2 sowie morgen um 20.05 Uhr bei NDR 3.

FAZ 11. 03. 2002


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