Zwiegespräche – Peter Schmersal im Porträt Info-Literatur

Zwiegespräche

Peter Schmersal im Porträt

Egon Koch
In: Ausstellungskatalog Peter Schmersal: Malerei, Städtische Museen Jena 2011
 
Gegenwärtig wie eine der Figuren deiner Bilder trittst du, Peter, aus einem Raum hervor. Genauer besehen, bist du schon da, scheinst immer schon da zu sein und darauf zu warten, dass ich komme und dir begegne. Da stehst du an der Theke, selbstverständlich und ohne Vorgeschichte, als ich eines Morgens vor fast dreißig Jahren irgendwo auf der Welt eine Tür öffne und ein Café betrete. Mein Blick richtet sich auf dich Unbekannten und er gerät etwas länger als üblich: Dunkelblondes Haar, kurzgeschorener Bart, Brille, wache blaue Augen, ernstes Gesicht, Anzug, buntes Hemd – damals bereits. Wenn ich mich recht erinnere, hebst du den Kopf, schaust kurz in meine Richtung, signalisierst gleichfalls Aufmerksamkeit. Die Verbindung zwischen uns ist vom ersten Moment an eigenartig direkt und ich schaue ein zweites Mal, um mich zu vergewissern. Tatsächlich, da steht eine Kiste voller bunter Gemüse neben der Cafétasse vor dir auf dem Tresen.

Bis auf einige Ausnahmen tragen über die Jahre hinweg all die Modelle auf deinen Bildern nichts bei sich. Weder Schirm, noch Handtasche, Zeitung oder Schlüssel, schon gar keine Kiste voller Gemüse. Sie können sich an nichts halten und haben sich, nackt sogar viele, selbst zu genügen – Variationen von Menschen, die in einem von Farben bestimmten unbestimmten Raum sich selbst verkörpern, in einem von dir festgehaltenen und somit andauernden Augenblick ihres Lebens. Die meisten müssen stehen, einige erwecken den Eindruck einer Bewegung, manche dürfen liegen.

Bilder von Menschen. Menschenbilder. Menschliche Bilder. Auf den ersten Blick sind die Gesichter und Körper deiner Menschen grobe Farblandschaften von holzschnittartiger Dreidimensionalität. Wenn ich sie jedoch mit meinen Augen anblinzle, entstehen für Momente all die dünnen Häute, kräftige Muskeln, sinnliche Lippen und Brüste, Augenlichter und gezeichneten Gesichter. All deine Menschenfreundlichkeit zeigt sich in diesen Gemälden, mehr noch: Menschenliebe. Sie rührt, wenn ich dies vermuten darf, von deinem Mut her, dich dem Modell, gar dem Leben zu öffnen und zu stellen, es genau zu beobachten und das Gesehene in die Zeichen deiner Malerei umzusetzen. Ohne Bewertung, wohlgemerkt, ganz so, wie es in seiner Einzigartigkeit ist. Nichts Menschliches scheint dir fremd.

Was eine deiner Figuren dann tragen muss, sind Fesseln. In einer Folge von Bildern sind die Handgelenke eines bis auf die Unterhose nackten Mannes mit einem Strick aneinander gebunden. Bei ihrem Anblick erzählst du mir in deinem Atelier von der historischen, im Auftrag der Kirche oft von alten Meistern gemalten Gestalt: Der Heilige Sebastian. Du konfrontierst deine Bildideen, sagst du, mit der klassischen Kunst. Abermals tritt das Dialogische deiner Arbeit zu Tage. Mit dem Auge eines lebenslang Lernenden und dem Blick eines Entdeckers trittst du in das Zwiegespräch mit der Vorlage oder mit dem Modell, je nachdem. A la prima – in aller Kürze, in wenigen Stunden suchst du auf der Leinwand eine Entsprechung für das zu finden, was du vor dir hast. Ich könnte jetzt nachlesen, was über den Heiligen Sebastian und seine Darstellungen im Lexikon geschrieben steht und es auf andere Weise wiedergeben, aber der Text geriete zu wissenschaftlich, dein geistig-sinnliches Werk verlangt nach einer Erzählung. Es gibt einen narrativen Zusammenhang, bestätigst du, zwischen der Bild- und der Geistessprache. Früher, etwa in der Renaissance, waren die Maler bei der Darstellung der Anatomie auf das Menschenbild ihrer Zeit festgelegt, ja, gebunden wie der Heilige Sebastian. Heute aber, nach Picasso, besteht eine große Freiheit in der Gestaltung der Körper. Du hast dir beide Auffassungen zu eigen gemacht, meine ich zu bemerken. Tradition und Moderne. Im Alten suchst du das Neue. Denn was ich auf den Bildern sehe, ist deine heutige Version des Motivs vom Heiligen Sebastian. Wie ein Musiker, Jazzer der Farbe allemal, interpretierst du das altbekannte Stück eines Gläubigen auf deine Weise. Einmal hat der braun gebrannte, athletische Mann beide Hände über dem Rücken gefesselt und steht tief gebeugt auf einer Wolke aus Kringeln – das ist die Kunst, fällt mir dazu ein, etwas schaffen, worauf man stehen kann -, sein langes braunes Haar hängt über seinen gesenkten Kopf senkrecht hinab, neben seinen Füssen kreuzen sich zwei Pfeile. In weiteren Versionen steht der Modellathlet aufrecht vor abstrakten Hintergründen und seine Hände sind vor seinem Bauch gebunden, auf zwei Bildern der Serie stecken gar zwei dicke Holzpfeile in seinem muskulösen Oberkörper: „Da stehe ich, bin gefesselt, durchbohrt, zu Tode verletzt…“, mag er in seiner Sprachlosigkeit sagen. Darstellungen der Gefangenschaft, erblicke ich, Bilder der Wehrlosigkeit, der Qual, des zeitlosen Leidens eines Idealisten. Das Gesicht des Mannes zeigt jedoch keinen Schmerz, eher trägt es Zeichen von Trauer und existentieller Einsamkeit. Gleich Jesus könnte dieser Mann ausrufen: „Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?!?“ Seine Augen sind auf eine Wirklichkeit jenseits der Gefangenschaft gerichtet, auf die Welt seines Glaubens, stelle ich mir vor, auf Transformation… Wenn die Gefangenschaft zum Thema wird, wird es gleichzeitig auch die Freiheit. Denn die Pole bedingen sich gegenseitig, sorgen für die nötige Spannung.
So tief berührt mich das Motiv vom Heiligen Sebastian, Peter, dass sich meine Version eines Gefährdeten von selbst entwirft, gleichfalls das Neue im Alten im Sinn. In einem totalitären Staat irgendwo auf der Welt wird eines Abends ein Regimegegner auf offener Strecke von mehreren Männern aus seinem Auto gezerrt und in das Cockpit eines Lieferwagens gesperrt. Die Gewalttäter drohen ihrem Opfer mit einem Gerät in der Größe eines Koffers schreckliches an, ziehen sich über seinem Haupt aus dem Cockpit zurück, um in einem PKW auf dem Feldweg auf der anderen Seite der Landstraße zu verschwinden. Das Fahrzeug, worin der Mann eingeschlossen ist, steht am Rand der Landstraße. Die Paare von Scheinwerfern im Blickfeld, sie nähern sich von Links und Rechts und gleiten vorüber, fragt er sich, weshalb der Wagen, in dem er gefangen gehalten wird, nicht losfährt, auch wenn die Lücken zwischen den Autos auf der Landstraße groß genug sind. Vorsichtig schaut er sich um und stellt fest, dass keiner außer ihm im Cockpit ist. Über ihm schwebt kein Gesicht, über ihm ist nichts weiter als das zur Hälfte durchsichtige Dach. Im Rückspiegel erblickt er seitlich auf der grauen Karosserie das Emblem einer Firma. Alles nur Tarnung.

Soll das nun alles so weit gehen, dass ihn die bloße Angst vor dem Geheimdienst gefangen hält? Dass er, wenn er sich die Situation nur klar vor Augen führen würde, die Freiheit hätte, hinfahren zu können, wohin er will? Oder die, einfach auszusteigen?

So leicht ist das mit der Befreiung nicht. Kein Schlüssel steckt im Zündschloss. Vielmehr hat einer der Schergen das Gerät, mit dem er seinem Gefangenen gedroht hat, auf dem Boden des Fahrerhäuschens gestellt und die Türen mit starken Sicherheitsschlössern verriegelt. Auf diese Weise gibt es kein Entkommen. Seine Hände sind zwar nicht gefesselt, aber er ist gebannt von dem Gerät. Aus ihm strömt ein Gas, das bewirkt, dass er langsam erstickt. Er weiß nicht, ob es schmerzhaft sein wird, ob er Panikattacken bekommt. Im besten aller Fälle, sagt er sich, schlafe ich einfach ein. Eines ist jedoch sicher, das Gerät bringt den Freiheitsliebenden seinem Tod näher, lautlos, wie die Pfeile im Körper des Heiligen Sebastian. Im Moment aber, als der Boden des Cockpits unerklärlicherweise Feuer fängt, kommt ihm die Idee, aus einem der beiden Seitenfenster zu klettern. Oh ja, das geht, er kann sie bis zur Hälfte hinab kurbeln, so dass sein Körper der Länge nach hindurch passt. Mit hinausgestrecktem Kopf und Oberkörper, seine gebückte Haltung gleicht der deines Heiligen Sebastian, sieht er ein rotes Feuerwehrauto auf den Transporter zufahren, jemand muss die Flammen bemerkt und gemeldet haben…

Nachdem sich mein Dissident fürs Erste aus Gefahr und Not befreit hat, Peter, nehme ich Pfeile auch auf anderen deiner Bilder wahr. Die aber wollen nicht töten, falls sie sich in das Fleisch eines Menschen bohren. Wenn Pfeile zum Thema werden, werden es auch Bögen und die Liebe. Denn Waffen und die Liebe bedingen sich gegenseitig, sie sorgen für die nötige Spannung.
Amor schnitzt den Bogen, heißt das Bild, in dem du einer deiner Figuren Gegenstände in die Hände gibst. Du hast es in deinen leuchtenden, mich an klares Abendlicht erinnernden Farben nicht nach Rubens, sagst du, sondern nach dem Manieristen Parmigianino gemalt. Beim Anblick des Gemäldes öffne ich eine Zimmertür und überrasche den geflügelten Gott der Liebe bei der Arbeit. Nackt steht der ewigjunge Knabe auf dem Tisch, ein Fuß auf zwei Bücher gesetzt, und hantiert mit einem Dolch an einem Ast. Er schaut aber nicht auf das, was er gerade tut, auch nicht auf die beiden Putten zu seinen Füssen, die in einen Streit verstrickt sind, nein, er schaut über seine Schulter und tritt mit seinem linken Auge in den Dialog mit seinem Betrachter, belustigt und keck, als zwinkere er im Einverständnis auf das, was er bald macht. Wenn er den Bogen geschnitzt hat, wird er den Pfeil in das Herz dessen schießen, der ihn in diesem Moment erblickt. Das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielt, spricht von der Verheißung des Glücks und seiner Vergänglichkeit.

So malst du, Peter, weitere Bilder, um uns Episoden der Liebe vor Augen zu führen. In einem stehen zwei Wesen aus der Mythologie wiederum auf dem Kringelboden der Kunst, Venus und Amor, ich könnte auch sagen, die Schöne und der Kobold. Der kleine, noch auf einem Podest stehende Schelm, grün und feucht wie ein Cronopium von Julio Cortázar, der Jazzer der Sprache, lüpft der nackten Göttin der Liebe und des erotischen Verlangens mit seinem Pfeil das durchsichtige Tuch in die Höhe, das sie vor ihre Scham hält, neugierig auf ihr Geheimnis.

Und jetzt, die Selbstironie und die Leichtigkeit deiner neueren Werke ist mir eine Freude, stellst du dich selbst vor einem lebensstrotzendfarbigen Hintergrund im weißgestreiften blauen Anzug auf diesem Kringelboden, den du geschaffen hast, Hand in Hand mit diesem Kobold Amor. Der kleine Schelm auf dem Sockel neigt seinen Kopf zur Seite und schaut zu dir hoch. Obwohl du seine winzige Hand umfasst – endlich können sich deine Figuren aneinander halten -, scheint er dich zu ziehen, wie ein Kind, um dir etwas Wichtiges zu zeigen, dich irgendwo in die Zukunft zu führen, zu verführen…
So trittst du folgerichtig in das Zwiegespräch mit einem Paar. Es ist auf einer weißen Liege vereint – bekleidet beide, umarmen und küssen sich Mann und Frau, er oben, sie unten. Auf dem nächsten Bild haben sich beide auf der gleichen weißen Liege ihrer Kleidung entledigt, sie sind nackt, entspannt wie nach dem Liebesakt. Der Mann liegt auf dem Rücken, wendet den Kopf leicht zu seiner Geliebten, die sich ihrerseits, auf der Seite liegend, ihm mit angewinkelten Beinen zuwendet und womöglich sanft flüstert: „Liebster“.

Zu guter Letzt öffnet sich keine weitere Tür, sondern schaue ich wie ein Voyeur durch das Schlüsselloch auf das stehende, sich in einem grauvioletten Oval umarmende Paar. Mythologie, Leben, Liebe – in dieser Komposition führst du all dies auf das zurück, was sie letztlich in deinen Bildern sind: Spielarten des menschlichen Daseins und zugleich nichts anderes als Zeichen deiner Malerei.