Folter regiert die Welt Info

Folter regiert die Welt

Gespräch mit Inge Genefke, ärztliche Direktorin des Kopenhagener Rehabilitationszentrums. Von Egon Koch

Frankfurter Rundschau, Freitag, 9. Dezember 1994

Im Kopenhagener Rehabilitationszentrum für Folteropfer arbeiten Ärzte, Psycho-und Physiotherapeuten, Sozialarbeiter und Dolmetscher fächerübergreifend zusammen. Neben der Behandlung von Folterüberlebenden Ist den Mitarbeitern wichtig, Wissen und Erfahrung an Kolle­gen aus aller Welt weiterzugeben und die Existenz der Folter In das Bewußtsein der Menschen zu bringen. Offiziell wurde das Zentrum 1982 als weltweit erstes dieser Art eingerichtet. Mit Inge Genefke, der Ärztlicben Direktorin, sprach FR-Mitarbeiter Egon Koch in Kopenhagen.

FR.: Folter ist das Schrecklichste, das auf der Welt geschieht. Wie kann man das Schrecklichste in Worte fassen?

Genefke: Man kann es nie wirklich beschreiben, so daß wir es verstehen könnten. Aber man sollte immer versuchen, darüber zu sprechen. Je mehr wir sprechen und versuchen, es zu verstehen, desto mehr stellen wir die Dinge bloß, desto mehr schwächen wir die Wirkung.

Unbeteiligte Menschen verdrängen das Furchtbare, auch aus Selbstschutz. Wie kann man ihnen deutlich machen, daß in der heutigen Welt gefoltert wird?

Man sollte den Menschen sagen, ihr könnt etwas tun. Sie fühlen sich machtlos, deshalb wollen sie nichts über den Horror hören. Wenn sie zuhören, dann tun sie etwas gegen Saddam Hussein — ich nehme ihn als Beispiel. Wenn sie versuchen, Folter zu verstehen, dann tun sie eine demokratische Sache und beschützen sich am Ende selbst. Wenn dieser Aspekt verstanden würde, würden mehr zuhören.

Das Rehabilitationszentrum behandelt Folteropfer aus dem Nahen Osten, Iraker, Iraner, Kurden und Palästinenser. Können sie darüber sprechen, was sie erlebten?.

Für sie ist das sehr schwierig. Sie fühlen immer, daß sie den Horror nicht in die normale Welt übertragen können. Die ihn im Gedicht ausdrücken oder ihn malen können, denjenigen gelingt es am besten. Aber die Tatsache, mit anderen Menschen, wie wir es sind, zusammen zu sein, mit Menschen, die Interesse und Mitgefühl zeigen, das hilft.

Ist diese Schwierigkeit, das Erlebte auszudrücken, auch Grund dafür, warum sich nur wenige Folteropfer öffentlich äußern?

Viele wollen es nicht. Viele haben Angst davor, weil ihre Verwandten dafür leiden müssen. Viele Opfer fühlen sich so isoliert und allein. Sie sollten Frieden finden, wenn sie es wünschen. Wir sollten sprechen und eine Hälfte der Opfer sein.

Ist dieses Schweigen von den Folterern nicht beabsichtigt?

Am Ende der Folter befinden sich die Opfer oft in einem konfusen Stadium. Sie wissen nicht, was sie sagen, was sie tun, sie können zu allem gezwungen werden. Selbst dazu, andere Gefangene zu foltern, zu schlagen. Wenn sie derart enden, wenn sie betteln, schreien, demütigende Dinge vorspielen, wenn sie sexuell erniedrigt wurden — wir wissen viel darüber, weil uns viele ihr Vertrauen schenken —, wenn sie all das durchgemacht haben, sind sie voller Scham und Schuld. Sie haben dann kein Vertrauen mehr in sich, sie fühlen sich schwach, sie sind Opfer. Genau da wollten die Folterer sie haben. Deshalb sprechen sie nicht offen darüber. Aber wir machen das öffentlich. Wir haben den Mythos des Schweigens gebrochen, der von den Folterern geplant war. Es ist schrecklich zu sagen, ein Opfer habe Schuld. Die Schuld ist stets auf Seiten der Folterer. Je öfter wir das sagen, desto besser für die Opfer. Das ist Rehabilitation.

Die Machthaber schaffen mit Folter ein Klima aus Angst und Schrecken?!

Wir haben ein Muster beobachtet. In Afrika, Asien, Europa oder Lateinamerika benutzen sie die gleichen Methoden, die Zielgruppe niederzuzwingen. Nachdem sie versucht haben, einen starken Menschen zu zerstören, schicken sie ihn in seine vorherige Umgebung zurück. Und da haben sie dann ein früheres Gewerkschaftsmitglied, er hat Alpträume, er kann nicht mehr handeln wie zuvor, weint, ist nervös. Damit leidet auch seine Familie, seine Kinder. Und dann sagt sich die Nachbarschaft: »Ich werde nicht das gleiche tun.“ Deshalb kann Saddam Hussein so lange an der Macht bleiben. Er gebraucht Folter. Die Leute sagen, Geld regiert die Welt. Ich würde sagen, Folter. Wenn ein Land Folter anwendet, haben wir alle Angst, Folteropfer zu werden, ich selbst auch. Das ist ein normaler Aspekt, und der wird benützt. In diesem Zentrum haben wir Folteropfer aus mehr als 50 Ländern in der Welt geholfen. Letztes Jahr waren wir in über 65 Ländern aktiv.

Sie verstehen Ihre Arbeit medizinisch, Sie wollen zerstörte menschliche Identität wieder etwas au/bauen, ist sie aber in ihren Konsequenzen nicht politisch?

Ich würde sagen, es ist eher eine ethische Arbeit. Auf der ganzen Welt sollten wir darin übereinstimmen: Menschen dürfen keiner Folter ausgesetzt werden, aus keinem Grund. Menschen zu nehmen, sie in ihrer geistigen und körperlichen Unversehrtheit versuchen zu brechen, für mich, ich bin Ärztin, ist das unglaub… — es ist nicht unglaublich, weil ich weiß, daß es geschieht. Im Stillen. Saddam Hussein prahlt nicht mit seinen Folterkammern, auch in den 73 anderen Ländern tun sie das nicht. Ein Folteropfer prahlt auch nicht, weil er derart gedemütigt wurde. Jeder endet damit, aufzugeben. Die Foltertechnik ist derart wirksam, daß man jeden dazu bringen kann, alles zu tun. Sie nehmen dein Kind und sagen: ,,Wir werden es vergewaltigen.“ Oder: ,,Wir werden es töten.“ Da wird man alles unterschreiben, alle Namen preisgeben, alle Lügen erzählen — ich würde das tun. Sie wissen, daß die psychische Folter die schlimmste ist. Und sie gebrauchen sie sehr, sehr oft. Am Ende zerbricht jeder oder stirbt.

Einige Ärzte in den Folterländern sorgen dafür, daß keiner unter der Folter stirbt. Welche Funktion haben sie noch?

Das sind Gerichtsmediziner, Gefängnis- und Militärarzte. Sie sind da, um die Folter wirksamer zu machen. Das ist furchtbar. Wir wissen von Opfern, die dachten, als sie in die Folterkammer gebracht wurden: Gott sei Dank, da kommt ein Arzt. Und dann sagt der Arzt nur zum Folterer: ,,Du solltest das und das machen, warte fünf Minuten, weil er sonst stirbt.“ Oder: ,,Sie schwindelt, du kannst weiterma­chen.“ Und sie bringen Menschen in das Militärkrankenhaus, um sie für weitere Folter medizinisch fit zu machen. Ich denke, unsere medizinischen Organisationen sollten sich mutiger dagegen erheben.

Trotz unvorstellbarer Qualen muß etwas Starkes im Menschen sein, sonst könnte keiner die Folter überleben. Ist dieses Etwas Glaube an Gott oder politische ideale?

 Wir können diesen Menschen helfen, weil sie starke Menschen sind. Genau deshalb wollen die Regierungen sie zerstören. Ich weiß nicht genau, was in ihnen ist, aber bestimmt ein Glaube, der kann religiös, politisch oder menschlich sein. Wir begegnen hier sehr ethischen Menschen. Nahezu alle haben für eine bessere Gesellschaft gearbeitet, für bessere Lebensbe­dingungen. Und sie bezahlen einen furchtbaren Preis. Ich denke, dieser ethische Aspekt gibt ihnen die Kraft. Wenn sie hier anfangen, sage ich immer: Jetzt sind Sie in Dänemark, Sie sind allein, ohne Familie, ohne Arbeit, ohne etwas. Wenn Sie jetzt wählen könnten, nicht das zu tun, was Sie getan haben, nicht so mutig zu sein, wie Sie gewesen sind, was würden Sie tun?‘ Keiner hat gesagt, er würde nicht das gleiche machen.

Obwohl sie um die Folter wissen, um die schlechten Bedingungen im Exilland?

Sie haben eine hohe ethische Haltung zum Leben. Wir sollten sehr glücklich sein, in Deutschland, in Dänemark, wo immer sie auch hinkommen, weil sie unsere Gesellschaft bereichern. Sie sind die­jenigen, die den Mut hatten, gegen Diktatoren vorzugehen, für demokratische Ideen und Ideale zu arbeiten. Wir würden unsere Gesellschaft besser machen, reicher, demokratischer, menschlicher, wenn wir die Flüchtlinge willkommen hießen.

Hier ist nach der ethischen Haltung europäischer Politiker zu fragen. Sie hätten die Möglichkeit, etwas gegen Folter in den betreffenden Ländern zu unternehmen.

Wir sollten alle im Recht übereinstimmen, daß keiner gefoltert wird. Wenn Menschen nicht gefoltert werden, können sie für bessere Gesellschaften arbeiten. Wenn ich Politikerin wäre, würde ich eine Sache ansprechen: Folter.