HAUPTSTROM UND NEBENFLÜSSE
Exposee zum Roman
Von Egon Koch
ERSTES BUCH: DER MENSCH, EIN UNIVERSUM
ZWEITES BUCH – DAS ENDE DER KINDHEIT
DRITTES BUCH – DAS EIGENE LIED
VIERTES BUCH – DER UNSICHTBARE SALDO
Schuld und Sühne bilden den Hauptstrang des in vier Büchern gegliederten Romans. Wegen der Trennung von der Lebensgefährtin und der Implosion seiner kleinen Familie ist der Protagonist Wolf Wellenreiser blind vor Schuldgefühlen. Bei einem Schwangerschaftsabbruch, er war Mitte 20, hat er sich bereits am ungeborenen Leben schuldig gemacht. Angeklagt, wie er ist, tritt er vor Gericht wie Sokrates in einer Verteidigungsrede für sich ein. Nicht, dass er unschuldig wäre. Tiefer noch als materielle und juristische Schuld reicht seine ethische. Meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld, das hat er bereits in seiner Kindheit als Ministrant inbrünstig gebetet. Die einzige Möglichkeit, die er heute für sich sieht, ist zu verstehen, was er da warum getan hat. Folglich macht er sich daran, all die alten Rechnungen zu bezahlen.
Ist der Angeklagte aber identisch mit dem Täter? Die Frage ist identisch mit der nach dem Urheber des Romans Hauptstrom und Nebenflüsse. Ist es der Rumäne Crajic? Der Verfasser der vier Bücher, die er den Protagonisten Wolf und Christian, Bestohlener und Dieb, am Anfang in die Hände legt? Ist es Wolf, der Hörfunkautor? Oder steckt noch ein anderer dahinter? Etwa Paul, der Künstler, der malt und auch schreibt. Wer schreibt hier über wen? Wer ist dieser Ich-Erzähler? Gar eine multiple Persönlichkeit?
Der Roman spielt mit Identitäten. Es ist von Masken die Rede, von Lügen, von Figuren, von Spielen, vom Schlüpfen in die Kleidung eines anderen. Ist es möglich, dass sich da einer beim Übergang von der DDR in die BRD eine Identität erfunden hat? Und wenn es einen Täter gibt, wer ist das Opfer? Wer wird da tot im Bett aufgefunden und begraben?
Mit der Trennung von seiner Partnerin verliert Wellenreiser auch sein bisheriges Zuhause. Die Suche nach seinem neuen führt ihn immer wieder dorthin, wo es einmal war, in sein Elternhaus. Der Vater hat des Sohnes Eigenwillen früher mit keinen körperlichen Schlägen bestraft, er hat ihn verbal vernichtet. Seine Mutter hat ihn als emotionalen Partner missbraucht, als Schutzschild gegenüber ihrem Mann. Spät erst erfährt er von der Formel, die ihn zu seinem neuen Zuhause führt.
Mit der Pulverisierung der kleinen Familie wendet sich seine Tochter von ihm ab. Was er seit ihrer Geburt befürchtet hat, geschieht. Er aber liebt und vermisst sie, startet eine Suchexpedition, schreibt ihr einen langen Brief.
Die Recherchen zum Radiofeature über Drogen- und Alkoholabhängige führen Wellenreiser in die Welt der Schifffahrt, auf Segel- und Hausboote, auf Binnenschiffe, wie die RIMBAUD, das Schiff seiner Kindheit, auf die Suche nach dem vermissten Vorgänger, schuldlos, wie er vor dem Schwangerschaftsabbruch gewesen ist.
Der Topos Schiff versinnbildlicht die Lebensreise (über Heimatdorf, Orte wie Hamburg, Paris, Berlin, New York) als Manöver, Kurs halten, aus dem Ruder laufen, Wenden, Ein- und Ausfahrt von Häfen, Fest- und Losmachen von Tampen und Verbindungen, Untiefen, Engstellen, Weite, Klippen umschiffen, dunklen Abgründe überfahren und Wasserfälle überqueren.
Bei Produktionen des Features beim Hörfunk bricht durch technische Mittel immerzu das Kontinuum der Chronologie auf, die Vergangenheit dringt auf surreale Weise in die Gegenwart ein.
Obwohl sich der Roman mit seinen Zeitebenen eher digital als linear entwickelt, folgt er Spielregeln. Christian, das Gegenüber von Wolf, sagt am Ende des Zyklus, er habe beim Kartenspiel Lebensregeln von Wolf gelernt.
Bei der Entwicklung von Wellenreiser zum Moment hin, wo er sein Leben selbst in die Hand nimmt, sich seiner Schuld entledigt, selbst ermächtigt und sich das Recht nimmt, sich gegen jegliche Reglementierungen zur Wehr zu setzen, hat er Ängste zu erkennen und zu überwinden, Verletzungen sichtbar zu machen und zu heilen.
Hauptstrom und Nebenflüsse stellt die Zeit im Verbrennen dar. Der Roman erzählt fragmentarisch von Ereignissen und Begebenheiten, die sich gleich Mosaikteilen zum Gesamtbild eines Menschenlebens und seinen vielfachen Beziehungen zusammenfügen.
Der Roman hat ca. 800 Manuskriptseiten.