Hauptstrom und Nebenflüsse
Exposee zum Roman
Von Egon Koch
Der Roman handelt von der Reise um die Welt. In mehr als 80 Tagen, in viele Orte dieser Erde. Er handelt von einem Mann, von einer Frau, aber auch von anderen Männern, von anderen Frauen… In einer Episode hat Wolf Wellenreiser, Nomen est Omen, mal wieder Streit mit seiner langjährigen Lebensgefährtin. Sie würde mit ihrer gemeinsamen Tochter, sagt sie, in den Urlaub auf eine Insel fahren. Die Art und Weise, wie sie diese Sache handhabt, geht ihm gegen den Strich und er entwickelt Mordfantasien.
Seine Reise unternimmt er auf allen möglichen Vehikeln. Per Flugzeug, Auto, Zug, zu Fuß, aber vor allem mit dem Schiff. Schiffer befahren den Rhein und seine Nebenflüsse, den Neckar mit Heidelberg, den Main mit Frankfurt, die Mosel mit Trier, aber auch die Elbe mit Hamburg, die Seine mit Paris… Passagier- und Binnenschiffe, wie die Rimbaud, das Schiff der Kindheit von Wolf, fahren mit ihren Ladungen und Geschichten umher. Segelboote auch auf den Weltmeeren, eines bis ins Eismeer.
Der Topos Schiff handelt von der Lebensreise als Manöver, Kurs halten, aus dem Ruder laufen, Wenden, Ein- und Ausfahrt von Häfen, Fest- und Losmachen von Tampen und Verbindungen, Untiefen, Engstellen, Weite, Klippen umschiffen, dunklen Abgründe überfahren und Wasserfälle überqueren.
Hauptstrom und Nebenflüsse, der Titel des Romans, bezeichnet den Erzählstil des Bewusstseinsstroms, und im übertragenen Sinn die Erzählstränge, Hauptstrang und Nebenstränge:
Hauptstrang: Schuld und Sühne. Wegen der Trennung von der Lebensgefährtin und der Implosion seiner kleinen Familie ist der Protagonist blind vor Schuldgefühlen. Er macht sich daran, all die alten Rechnungen zu bezahlen. Selbst vor Gericht klagt man ihn an. Wie Sokrates tritt er in einer Verteidigungsrede für sich ein. Tiefer noch als materielle und juristische Schuld reicht die ethische. Meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld, das hat er bereits in seiner Kindheit als Ministrant inbrünstig gebetet. Nicht, dass er unschuldig wäre. Vor allem bei einem Schwangerschaftsabbruch hat er sich am Leben schuldig gemacht. Die einzige Möglichkeit, die er in diesem Fall hat, ist zu verstehen, was er da warum getan hat. Im Laufe der Geschichte wird die Frage nach dem Täter laut, nach dem Mordangeklagten. Wer ist es? Die Frage ist identisch mit der nach dem Urheber des Romans Hauptstrom und Nebenflüsse.
Wer schreibt hier über wen? Ist der Rumäne Crajic der Verfasser der vier Bücher, die er den Protagonisten Wolf und Ingo am Anfang in die Hände legt? Ist es Wolf? Oder steckt noch ein anderer dahinter? Etwa Paul, der Künstler, der malt und auch schreibt. Wer ist dieser Ich-Erzähler? Gar eine multiple Persönlichkeit?
Wer ist überhaupt der Protagonist? Wolf Wellenreiser? Sein vermeintlicher Zwillingsbruder Eckhard? Christian, der sich ebenfalls von seiner Frau trennt. Geno Rivamann?Alles Spiegelbilder seiner selbst.Der Roman spielt mit Identitäten. Es ist von Masken die Rede, von Lügen, von Figuren, von Spielen, vom Schlüpfen in die Kleidung eines anderen. Ist es möglich, dass sich da einer beim Übergang von der DDR in die BRD eine Identität erfunden hat? Und wenn es einen Täter gibt, wer ist das Opfer? Wer wird da tot im Bett aufgefunden und begraben?
Nebenstränge:
Mit der Trennung verliert Wellenreiser auch sein bisheriges Zuhause. Die Suche nach seinem neuen führt ihn immer wieder dorthin, wo es einmal war, in sein Elternhaus. Der Vater hat des Sohnes Eigenwillen früher mit keinen körperlichen Schlägen bestraft, er hat ihn verbal vernichtet. Seine Mutter hat ihn als emotionalen Partner missbraucht, als Schutzschild gegenüber ihrem Mann. Spät erst erfährt er von der Formel, die ihn zu seinem neuen Zuhause führt.
Mit der Pulverisierung der kleinen Familie wendet sich seine Tochter von ihm ab. Was er seit ihrer Geburt befürchtet hat, geschieht. Er aber liebt und vermisst sie, plant eine Suchexpedition.
Bei seine Arbeit beim Hörfunk führt er Aufträge – etwa über Fußballer, deren Traum von der großen Fußballkarriere geplatzt ist – und Produktionen aus, führt Interviews, wie mit seinem Vater oder Schriftsteller Crajic, macht auf seinen Reisen Audioaufnahmen von Worten, Musik und Geräuschen. Ein Interview ist eine einfache Situation, man spielt das Frage-und-Antwort-Spiel, meint er. Irgendwann dreht sich das Ganze jedoch um, und er, gerade bei der Frage nach seiner Schuld, hat Rede und Antwort zu stehen. Bei Produktionen beim Hörfunk bricht durch technische Mittel immerzu das Kontinuum der Chronologie auf, die Vergangenheit dringt in die Gegenwart ein.
Neben Liebe und Sex kommen auch Gewalt und Politisches zur Sprache, wie Aktionen der Extinction Rebellion gegen Neo Nazis oder eine Aussagen des US-Präsidenten über Ursachen des Krieges. Um Figuren fügig zu machen, sich zur Wehr zu setzen, geht es schon mal zur Sache. Bei Gewalt gegen Kinder hört jedoch jede Toleranz auf. „Wenn du meiner Tochter etwa antust, bringe ich dich um“, droht er seinem Vater. Zugleich gibt es Versuche, all die Konflikte auch friedlich zu lösen. Wie Wolf am Beginn der großen Demonstration gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem in seiner Rede verkündet: „Wir sollten von Anfang an klären, ob wir uns provozieren lassen. Wenn dem so ist, wird es sicherlich zum Kampf kommen. Wollen wir das?“
Bei der Entwicklung von Wolf Wellenreiser zum Moment hin, wo er sein Leben selbst in die Hand nimmt, sich seiner selbst ermächtigt und sich das Recht nimmt, sich gegen jegliche Reglementierungen und Schuldzuweisungen zur Wehr zu setzen, hat er Ängste zu erkennen und zu überwinden, Verletzungen sichtbar zu machen und zu heilen.
Hauptstrom und Nebenflüsse erzählt fragmentarisch von Ereignissen und Begebenheiten, die sich gleich Mosaikteilen zum Gesamtbild eines Menschenlebens und seinen Beziehungen zusammenfügen.
Der Roman hat ca. 850 Manuskriptseiten.